Die Aufhebung der Leidenschaften
Wir Serben haben Gott sei Dank all unsere Angelegenheiten in Ordnung gebracht, so daß wir in verdienter Muße gähnen können, solange wir wollen, dösen oder uns auf dem Diwan räkeln. Wenn uns auch das zu langweilig wird, werfen wir zum Spaß einen Blick über unsere Grenzen, um zu sehen, wie es in den anderen unglücklichen Ländern zugeht. Man sagt — Gott bewahre uns davor! —, daß es Länder gibt, in denen die Menschen immer streiten und für irgendwelche Rechte, Freiheiten und Sicherheiten Blut vergießen. Man bekommt eine Gänsehaut, wenn man an jene Unseligen denkt, die ihre Angelegenheiten noch immer nicht in Ordnung gebracht haben, während wir sogar schon dazugekommen sind, uns um die Zustände in China und Japan zu kümmern. Jeden Tag entfernen wir uns weiter von unserem Land, und wenn es so weitergeht, werden die Journalisten ihre Berichte bald vom Mars, vom Merkur oder wenigstens vom Mond schicken.
Auch ich bin Mitglied dieses glücklichen Volkes und will nun, um der Mode Genüge zu tun, von einem fernen Land berichten und von Dingen, die sich dort vor langer Zeit zugetragen haben. Man weiß nicht genau, wo dieses Land lag und wie das Volk hieß; sicher ist nur, daß es nicht in Europa lag, und daß es keine Serben waren: alle Historiker der älteren Schule sind sich darüber einig; die der neueren werden darum wahrscheinlich das Gegenteil behaupten. Im übrigen geht uns die Sache nichts an und ich lasse sie daher fallen auf die Gefahr hin, gegen den allgemeinen Brauch zu verstoßen, von Dingen zu reden, die man nicht versteht, und Dinge zu tun, für die man nicht zuständig ist.
Es steht jedenfalls fest, daß jenes Volk sehr verdorben war, voller Laster und böser Leidenschaften, von denen diese Geschichte handelt. Man wird mir wahrscheinlich gar nicht glauben, daß es jemals so verdorbene Menschen gegeben hat: ich möchte deshalb betonen, daß mein Bericht sich auf dokumentarische Unterlagen stützt. Hier in wortgetreuer Übersetzung einige vertrauliche Mitteilungen, die bei verschiedenen Ministerien eingelaufen sind:
„Der Landwirt N. N. aus K. ist heute nach der Feldarbeit in einem Gasthaus eingekehrt, er hat dort Kaffee getrunken und mit sichtlicher Leidenschaft Zeitungen gelesen, in denen die Regierung angegriffen wird…“
„Der Lehrer T. aus B. pflegt, sobald er die Schule verläßt, Bauern um sich zu versammeln, in der Absicht, sie zur Gründung eines Gesangvereins zu überreden. Dieser Lehrer spielt außerdem mit seinen Schülern und Lehrlingen Murmeln, so daß er als sehr schädlich und gefährlich anzusehen ist. Einigen Bauern hat er aus Büchern vorgelesen und sie überdies dazu angestiftet, selbst Bücher zu kaufen. Dieser schlechte Mensch wird auf die Dauer unerträglich. Er verdirbt die ganze Umgebung, indem er den ruhigen und anständigen Bürgern erzählt, das höchste Gut sei die Freiheit, und sie dazu aufhetzt, die Freiheit zu verlangen. Er raucht auch leidenschaftlich und spuckt während des Rauchens auf den Boden.“
„Der Priester D. aus S. ist heute nach der Messe in die Nachbarstadt gegangen, um dort einer politischen Versammlung beizuwohnen.“
„Der Richter S. ist heute für die Neuwahl des Gemeinderats eingetreten. Dieser lasterhafte Richter bezieht ständig die oppositionelle Zeitung, welche er leidenschaftlich liest. Er hat es auch gewagt, einen Bauern freizusprechen, welcher der Amtsehrenbeleidigung, begangen dadurch, daß er vor Zeugen erklärt hat, er wolle nicht mehr im Laden des Ortsvorstehers Gabor einkaufen, angeklagt war. Item derselbe Richter sieht sehr nachdenklich aus, ein klarer Beweis dafür, daß er voller Laster steckt und über eine großangelegte Verschwörung gegen das Regime grübelt. Man müßte ihn der Beleidigung des Staatsoberhaupts überführen, denn er kann keineswegs ein Freund der Dynastie sein. Er verkehrt nämlich im Kaffeehaus eines gewissen Mohr, dessen Großvater ein intimer Freund des Bruders jenes Leon war, der seinerzeit den Aufstand gegen den Großvater des heutigen Staatsoberhauptes angezettelt hat.“
Es gab noch schlechtere Menschen in jenem unglückseligen Land. Man lese nur folgende Anzeige:
„Der Rechtsanwalt in G. hat einen armen Mann vertreten, dessen Vater im vorigen Jahr umgebracht worden ist. Dieser Rechtsanwalt trinkt leidenschaftlich Bier und geht auf die Jagd. Und was noch schlimmer ist: er hat einen Verein zur Unterstützung armer Leute gegründet. Diese freche Mißgeburt erzählt überall herum, die staatlichen Spitzel seien schlechte Menschen.“
„Professor T. ist heute mit wildfremden Kindern durch die Stadt gelaufen und hat bei einem Gemüsehändler Birnen für sie gestohlen. Gestern hat er mit einer Schleuder nach Tauben geschossen und dabei das Fenster eines staatlichen Gebäudes zertrümmert. Das könnte man ihm noch nachsehen. Aber er besucht regelmäßig politische Versammlungen, wählt bei allen Wahlen, unterhält sich darüber mit den Bürgern, liest Zeitungen und spricht von staatlichen Krediten. Das Register seiner Sünden gegen den Unterricht ließe sich noch beliebig erweitern.“
„Die Handwerker in W. haben einen Leseraum gegründet und versammeln sich jeden Abend dortselbst. Diese Leidenschaft hat tiefe Wurzeln geschlagen, besonders bei den Jüngeren, während sich die Älteren mit dem Gedanken tragen, außer dem Leseraum noch einen Pensionsfonds für Handwerker zu gründen. Dies kann in unserer Gegend nicht geduldet werden, da es alle Menschen, die nicht auf die Regierung schimpfen, verderben würde. Einige Handwerker haben sogar die Erhöhung ihrer Löhne verlangt.“
„Die Bauern in P. verlangen Gemeinde-Autonomie.“
„Die Bürger in T. verlangen das freie Wahlrecht.“
„Viele der hiesigen Beamten verrichten gewissenhaft ihre Arbeit, einer von ihnen spielt sogar Flöte und kann Noten lesen.“
„Der Schreiber Miron tanzt leidenschaftlich bei allen Veranstaltungen und ißt zum Bier Salzmandeln. Man müßte ihn aussiedeln, um ihn von diesen Lastern zu kurieren.“
„Die Lehrerin Hella kauft jeden Morgen Blumen und verdirbt dadurch die ganze Umgebung, besonders die ihr anvertraute Schuljugend.“
Wer könnte all die grausamen Leidenschaften jenes unglückseligen Volks aufzählen? Es genügt zu sagen, daß es in dem ganzen Land nur zehn anständige und ehrsame Menschen gab, und daß alles andere, Männlich und Weiblich, Jung und Alt, verdorben war, von Grund auf, wie man zu sagen pflegt.
Man kann sich vorsteilen, wie es jenen zehn braven Menschen inmitten dieses verdorbenen Volkes ums Herz war: schwer, sehr schwer. Vor allem deshalb, weil sie gezwungen waren, dem Verfall ihres Landes, das sie über alles liebten, zuzusehen. Sie schliefen Tag und Nacht nicht, sondern überlegten immerzu, wie sie ihre sündigen Mitmenschen bessern und ihr Land vor dem Untergang retten könnten. Voll heißer Vaterlandsliebe, voller Tugenden und Edelmut nahmen sie alle Opfer auf sich. Eines Tages, als alle anderen Mittel fehlgeschlagen waren, brachten sie das allerschwerste Opfer und wurden Minister. Sie waren gebildete Leute, trotzdem fiel es ihnen nicht leicht, das Land von Sünden und Leidenschaften zu säubern. Endlich kam der Dümmste von ihnen (in jenem Lande bedeutete das: der Klügste) auf die Idee, ein Parlament einzuberufen und es nur mit Ausländern zu beschicken. Die übrigen Kabinettsmitglieder griffen diesen Vorschlag begeistert auf und mieteten auf Staatskosten etwas über zweihundert Ausländer, die sich gerade geschäftehalber im Lande aufhielten. Wer von den Ausländern sich zur Wehr setzte, wurde mit Gewalt ins Parlament gebracht. So traten einige hundert Ausländer zusammen, um als Vollstrecker des Volkswillens über das Wohl des Landes zu beraten. Es wurden auch gleich Wahlen ausgeschrieben, die das eingesetzte Parlament bestätigen sollten, und so geschah es, denn dies war der Brauch in jenem Lande.
Es begannen die Parlamentssitzungen. Man redete und debattierte, es war nicht leicht, so schwierige Probleme zu lösen. Trotzdem ging alles flott vor sich, nur sobald die Rede auf die Leidenschaften kam, stieß man auf Schwierigkeiten. Bis eines Tages einer der Abgeordneten die geniale Idee hatte, ein Gesetz vorzuschlagen, nach dem alle Leidenschaften im Lande aufgehoben werden sollten.
„Es lebe der Redner! Er lebe hoch!“ donnerte der ganze Saal.
Es wurde folgender Beschluß gefaßt:
„In der Einsicht, daß die Leidenschaften für das Volk schädlich sind, fühlt sich die Volksvertretung bewogen, dem neuen Gesetzeswerk noch einen Zusatz anzufügen:
,Von heute an hören alle Leidenschaften auf; sie werden als schädigend für Volk und Land aufgehoben. ‘“
Es waren seit diesem denkwürdigen Beschluß kaum fünf Minuten verstrichen, und niemand außer den Volksvertretern wußte noch davon, als eine merkwürdige Verwandlung mil dem ganzen Volk vorging. Ich glaube, es wird genügen, wenn ich hier einige Stellen aus einem Tagebuch jener Zeit übersetze:
„Ich habe immer leidenschaftlich geraucht. Sobald ich aufwache, muß ich nach einer Zigarette greifen. Eines Tages wache ich auf und taste wie gewöhnlich nach der Zigarettenschachtel. Irgendwie fühle ich mich nicht ganz wohl (in diesem Augenblick hat jener Abgeordnete den Gesetzesvorschlag eingebracht, Anm. d. Autors), und plötzlich spüre ich meine Hund zittern, und die Zigaretten fallen zu Boden; ich sehe sie mit Widerwillen an und spucke aus… ich werde nicht mehr rauchen, denke ich und wende meinen Blick von diesem abscheulichen Gift. Während ich mich noch über meine Verwandlung wundere, gehe ich in den Hof hinaus, und was seh’ ich dort? Mein Nachbar, ein eingefleischter Säufer, der es nicht eine Stunde ohne Wein aushalten konnte, steht kerzengerade und nüchtern da und kratzt sich am Hinterkopf.
,Da ist der Wein‘, sagt der Diener und reicht ihm wie gewöhnlich die Flasche.
Mein Nachbar greift nach der Flasche und schleudert sie auf den Boden, daß sie in tausend Stücke zerspringt.
,Ein gräßliches Gesöff!‘ ruft er voll Abscheu. Dann bittet er um Süßigkeiten und Wasser. Seine Frau beginnt über die wunderbare Errettung ihres Mannes Freudentränen zu weinen. Ein anderer Nachbar, der immer ein leidenschaftlicher Zeitungsleser gewesen ist, sitzt merkwürdig verwandelt an seinem Fenster.
,Haben Sie Ihre Zeitung noch nicht bekommen?‘ frage ich.
,Ich kann so etwas Langweiliges und Abgeschmacktes nicht mehr sehen‘, gibt er zur Antwort. ,Ich überlege gerade, ob ich mich dem Studium der griechischen Grammatik oder der Archäologie zuwenden soll.‘
Ich gehe auf die Straße, und die ganze Stadt scheint verwandelt zu sein. Ein verbissener Politiker, der gerade zu einer Versammlung gehen wollte, kehrt plötzlich um und läuft eilig nach Hause. Auf meine Frage erklärt er, er halte es für weitaus wichtiger, zu Hause einige Bücher über Landwirtschaft und Industrie herzunehmen, um seine Kenntnisse zu vervollkommnen.
Ganz verdutzt kehre ich nach Hause zurück, um einen Leitfaden der Psychologie zu Rate zu ziehen. Ich will das Kapitel ,Leidenschaften‘ nachschlagen — aber ich finde nur noch die Überschrift: die folgenden Blätter sind leer und weiß, als wäre nie etwas darauf gedruckt gewesen. Was ist da geschehen? In der ganzen Stadt ist kein leidenschaftlicher Mensch mehr zu finden! Sogar das Vieh ist gescheiter geworden. Erst am nächsten Tag lesen wir in der Zeitung, daß die Volksvertretung einen Beschluß zur Aufhebung der Leidenschaften gefaßt hat. Da endlich wird uns klar, was mit uns geschehen ist.“
Dieser Auszug aus dem Tagebuch eines Zeitgenossen wird hinreichen, die Stimmung, die nach dem Beschluß der Volksvertretung im Volke entstanden ist, klarzumachen. Bald wurde die Leidenschaftslosigkeit zu einem selbstverständlichen Zustand und die allgemeine Verwunderung hörte auf. Die Professoren belehrten ihre Schüler über das Kapitel „Leidenschaften“ ungefähr folgendermaßen:
„Einst gab es in der menschlichen Seele auch Leidenschaften, im übrigen eines der schwierigsten und kompliziertesten Kapitel der Psychologie. Aber mit dem Beschluß der Volksvertretung wurden die Leidenschaften aufgehoben, so daß sich dieses Kapitel weder in der menschlichen Seele noch in der Psychologie mehr findet. Am soundsovielten soundsovielten im Jahre soundsoviel wurden die Leidenschaften aufgehoben.“
„Gott sei Dank!“ flüsterten die Schüler. „Wir brauchen es nicht mehr zu lernen.“ Wenn die Prüfungsfrage „Leidenschaften?“ gestellt wurde, so genügte folgende Antwort:
„Am soundsovielten soundsovielten im Jahre soundsoviel wurden durch Beschluß der Volksvertretung die Leidenschaften abgeschafft.“
Wenn die Schüler diesen Satz fehlerlos aufsagten, bekamen sie die Note ,Vorzüglich‘.
So wurde dieses Land vor den Leidenschaften gerettet. Es gedieh von Jahr zu Jahr prächtiger, und einer alten Sage zufolge sollen seine Einwohner nach einer gewissen Zeit zu Engeln geworden sein.
Quelle: Dor, Milo (red.), Genosse Sokrates. Serbische Satiren, E. Hunna Verlag, Wien 1963. (Übersetzt von M. Dor und R. Federmann)