Der Führer (3/3)
So verging der erste Tag, und se folgten weitere, die ebenso verliefen. Nichts ereignete sich, außer kleineren Hindernissen: Sie stürzten in einen Graben, dann in eine Schlucht hinab, stießen auf eine Einfriedung, auf Brombeersträucher, auf eine Flasche, einige voh ihnen brachen sich Beiner oder Arme, mancher zerschlug sich den Kopf; aber alle diese Qualen wurden ertragen. Einige Griese blieben unterwegs liegen, aber sie waren sowieso schon alt. „Sie wären auch gestorben, wenn sie daheim geblieben wären, geschweige denn unterwegs“, sagte der Redner und ermutigte die Menschen zum Weitergehen. Einige kleinere Kinder von ein bis zwei Jahren starben, und die Eltern preßten ihr Herz, denn Gott hatte es so gewollt. Aber auch die Traür ist kleiner, je kleiner die Kinder sind:
„Das ist das geringere Unglück und Gott möge es verhüten, die Eltern erleben zu lassen, daß sie ihre Kinder verlieren, wenn sie heiratsfähig geworden sind. Wenn es so vom Schicksal bestimmt ist, dann ist es besser, sie sterben möglichst bald, dann ist auch die Traür weniger groß!“ tröstete der Redner.
Viele humpelten und wankten, die einen wickelten Tücher um den Kopf und legten kalte Umschläge auf die Beulen, die anderen trugen ihren Arm in der Schlinge: Alle waren zerlumpt und zerissen, von der Kleidung hingen nur Fetzen, aber trotzdem schritt man voll Hoffnung voran. All das war leicht zu ertragen, wenn der Hunger sie nicht gequält hätte. Aber vorwärts mußte man.
Eines Tages ereignete sich etwas Bedeutenderes.
Der Führer ging voran, neben ihm die Mutigsten.
(Zwei fehlten. Von ihnen wußte man nicht, wo sie geblieben waren. Die allgemeine Meinung war, daß sie Verrat begangen hätten und geflüchtet seien. Bei einer Gelegenheit sprach der Redner von ihrem schmählichen Verrat. Es waren nur wenige, die glaubten, sie seien unterwegs zugrunde gegangen. Aber sie schwiegen und sprachen ihre Gedanken nicht aus, um die übrigen nicht zu erschrecken.)
Die andern der Reihe nach hinterher. Plötzlich tat sich eine große und tiefe steinige Schlucht, ein richtiger Abgrund, vor ihnen auf. Der Abhang war so steil, daß man nicht hinabsteigen konnte. Auch die Mutigen blieben stehen und sahen auf den Führer. Er, gesenkten Kopfes, finster, in Gedanken versunken, schwieg und schritt mutig vorwärts tastete mit seinem Stock vor sich hin, bald links, bald rechts, in seiner bekannten Art; das hat ihn, wie viele sagten, noch würdevoller erscheinen lassen. Er sah keinen an, sagte nichts, auf seinem Gesicht zeigten sich keine Veränderungen, keine Spur von Angst. Immer näher kamen sie dem Abgrund. Sogar die Mutigsten wurden totenbleich, aber niemand wagte auch nur mit einem Wort den klugen, scharfsinnigen und mutigen Führer auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Noch zwei Schritte und der Führer war am Abgrund. In Todesangst, mit weit aufgerissenen Augen, wichen alle zurück. Die Mutigsten waren gerade im Begriff, den Führer zurückzuhalten, selbst unter Verstoß gegen die Disziplin, aber schon machte er ein-zwei Schritte, und stürzte jäh hinab in die Schlucht.
Verwirrung verbreitete sich, Gejammer, Geschrei, Angst griff um sich. Manche wollten sogar fliehen.
„Haltet doch! Übereilt euch nicht, Brüder! Wird denn ein gegebenes Wort so gehalten? Wir müssen weiter, diesem klugen Menschen nach. Denn er weiß, was er tut; er wäre doch verrückt, sich selbst zu ruinieren! Vorwärts, ihm nach! Dies ist die größte und vielleicht auch die letzte Gefahr, das letzt Hindernis. Wer weiß, ob da, hinter diesem Abgrund nicht der herrlichste fruchtbarste Boden liegt, den der liebe Gott uns zugedacht hat. Nur vorwärts, ohne Opfer geht es nicht!“so sprach der Redner, machte zwei Schritte vorwärts und verschwand in der Schlucht. Ihm folgten die Mutigsten, und ihnen nach stürzten blindlings die anderen.
Ein Gejammer, Stöhnen, Kollern und Ächzen, an dem steilen Abhang jener tiefen, großen Schlucht. Man hätte schwören können, daß keiner lebend, geschweige denn mit heiler Haut aus diesem Abgrund davonkommen werde.
Aber hart ist das menschliche Leben. Der Führer hatte ein seltenes Glück. Im Stürzen blieb er, von Fall zu Fall, am Gebüsch hängen, er wurde nicht verletzt. Es gelang ihm, sich langsam herauszuhelfen und bis zum Rand des Abhangs wieder hochzuklettern.
Während von unten Jammern, Wehgeschrei und dumpfes Stöhnen widerhallte, blieb er regungslos sitzen. Er schwieg nur und dachte. Einige da unten, zerschunden und erzürnt, begannen ihn zu beschimpfen. Aber er nahm überhaupt keine Notiz davon.
Diejenigen, die glücklicher hinabkamen und irgendwo an einem Strauch oder Baum hängengeblieben waren, begannen mit Mühe, aus der Schlucht wieder herauszuklettern. Der eine hatte das Bein gebrochen, der andere den Arm. Einer hatte den Kopf aufgeschlagen, und das Blut rann über sein Gesicht. Es war keiner heil geblieben, außer dem Führer. Sie sahen ihn finster an und stöhnten vor Schmerzen. Und er hob nicht einmal den Kopf. Er schwieg und dachte, wie jeder Weise!
Es verging einige Zeit. Die Zahl der Wanderer wurde kleiner und kleiner. Jeden Tag ging einer verloren; manche verließen den Zug und kehrten zurück.
Von der großen Zahl blieben nur noch etwa zwanzig übrig. In jedem der abgezehrten, erschöpften Gesichter spiegelten sich Verzweiflung und Zweifel, Anstrengung und Hunger. Aber keiner sprach mehr ein einziges Wort. Sie schwiegen genauso wie der Führer und gingen vorwärts. Sogar der feurige Redner schüttelte verzweifelt den Kopf. Anstrengend war dieses Wandern.
Täglich schmolz auch diese Gruppe zusammen, und es blieben zehn Leidensgenossen. Die Gesichter verzerrten sich, und unterwegs war statt einer Unterhaltung nur noch Angstgeschrei und Stöhnen zu hören.
Sie ähnelten mehr Krüppeln als Menschen, gingen auf Krücken und trugen ihre Arme in Schlingen, die am Hals festgebunden waren, und um den Kopf riesige Verbände, Umschläge aus blaüm, baumwollenem Tuch. Und wenn sie auch bereit gewesen wären, neü Opfer zu bringen, so wären sie doch nicht dazu in der Lage gewesen, denn an ihrem Körper gab es fast keine Stelle mehr für neü Verletzungen und Wunden.
Auch die Mutigsten und Härtesten hatten bereits Glauben und Hoffnung verloren, aber dennoch gingen sie weiter, das heißt, sie quälten sich auf verschiedene Weise unter Wehklagen und Stöhnen voran. Und was wollten sie anderes tun, sie konnten nicht mehr zurück. Aufgeben – nach so vielen Opfern?!
Es war finster geworden. Sie hinkten auf ihren Krücken dahin bis sie den Führer aus den Augen verloren. Er war nicht mehr vor ihnen. Einen Schritt noch und sie stürzten ein zweites Mal in die Schlucht.
„A-jaoj, mein Bein!“
„A-jaoj, meine Mutter, meine Hand!“
„A-jaoj!“ hallte das Gejammer wider, dann: Röcheln, Ächzen, und Stöhnen. Eine dumpfe Stimme fluchte sogar auf den stattlichen Führer, eh sie wieder verstummte.
Als es hell wurde, saß der Führer genauso da wie an jenem Tag, als sie ihn zum Führer wählten. An ihm waren nicht die geringsten Änderungen festzustellen.
Aus der Schlucht kroch der Redner heraus, noch zwei folgten ihm. Sie drehten sich, verunstaltet und blutig, nach allen Seiten, um zu sehen, wie viele von ihnen übriggeblieben waren, aber sie waren nur noch drei. Todesangst und Verzweiflung erfüllte ihre Seele. Die Gegend war unbekannt, bergig, nackter Stein, und nirgends ein Pfad. Noch vor zwei Tagen hatten sie einen Weg überqürt und hinter sich gelassen. Der Führer hatte sie so geführt.
Sie dachten an so viele Bekannte und Freunde, an die große Verwandtschaft, die auf diesem wundertätigen Wege zugrunde gegangen waren. Und es überkam sie Trübsal, stärker als der Schmerz in den verstümmelten Gliedern. Sie sahen mit eigenen Augen ihren Untergang.
Der Redner kam auf den Führer zu und begann mit erschöpfter, zitternder Stimme voll von Schmerz, Verzweiflung und Bitterkeit:
„Wo wollen wir denn hin?“
Der Führer schwieg.
„Wo führst du uns hin und wo hast du uns hingebracht? Wir haben uns dir anvertraut, samt unseren Familien, und folgten dir. Wir haben unsere Häuser und die Gräber unserer Vorfahren verlassen in der Hoffnung, dem Untergang in jener unfruchtbaren Gegend zu entgehen, du aber hast uns vollkommen zugrunde gerichtet. Zweihundert Familien haben wir mitgenommen und jetzt, zähl nach, wie viele noch übriggeblieben sind.“
„Nun, seid ihr nicht alle vollzählig?“ murmelte der Führer zwischen den Zähnen, ohne den Kopf zu heben.
„Wie kannst du so fragen? Heb den Kopf, sieh mal und zähl nach, wieviel von uns auf diesem unglücklichen Weg übriggeblieben sind! Sieh uns mal an, wie wir aussehen und wie wir zugerichtet sind. Es wäre besser, wir wären gestorben, als mißgestaltet fortzuleben!“
„Ich kann euch nicht ansehen!“
„Warum denn nicht?!“
„Ich bin blind!“
Es wurde totenstill.
„Hast du denn dein Augenlicht unterwegs verloren?“
„Nein, ich bin schon blind geboren.“
Die drei ließen verzweifelt ihre Köpfe hängen.
Der Herbstwind brauste unheimlich durch das Gebirge und trug das verwelkte Laub dahin; die Berge waren von Nebel eingehüllt, und in der kalten, feuchten Luft rauschten die Flügel der Raben, und ihr unheilverkündendes Krächzen hallte wider.
Die Sonne verbarg sich hinter den Wolken, die hastig irgendwohin weitereilten.
In Todesangst sahen sich die drei an.
„Wo wollen wir jetzt hin?“ zischte einer mit einer Grabesstimme.
„Wir wissen es selbst nicht!“
Quelle: Vukić, Miodrag (red.), Jugoslawische Erzähler der Gegenwart – eine Anthologie, Reclam, Stuttgart 1962. (Übersetzt von Miodrag Vukić)
Der Führer (2/3)
Am nächsten Tag versammelte sich alles, was den Mut besaß, mit auf den weiten Weg zu gehen. Mehr als zweihundert Familien kamen zur verabredeten Stelle, und nur wenige blieben daheim zurück, um den alten Herd zu hüten.
Es war ein trauriges Bild, dieser Haufen elender Menschen, die die bittere Not zwang, das Land, in dem sie geboren worden waren und in dem die Gräber ihrer Vorfahren lagen, zu verlassen. Ihre Gesichter waren hager, erschöpft, von der Sonne verbrannt. Das Leid vieler mühevoller Jahre hinterließ Spuren auf ihnen, verlieh ihnen einen Ausdruck des Elends und bitterer Verzweiflung. Aber in diesem Augenblick spiegelte sich in den Augen der erste Strahl der Hoffnung – aber auch des Heimwehs. Manchem Greis floß eine Träne über das verrunzelte Gesicht, er seufzte verzweifelt, schüttelte den Kopf mit einer bösen Vorahnung und hätte lieber noch ein paar Tage abgewartet, bis auch seine Knochen in diesem Karst hätten ruhen können, statt nach einer besseren Heimat zu suchen. Viele Fraün stimmten laute Klagelieder an und verabschiedeten sich von den Verstorbenen, denen sie die Gräber nun selbst überließen.
Die männer rissen sich zusammen, und um nicht auch weich zu werden, schrien sie:
„Verdammt, wollt ihr denn weiter in dieser verfluchten Gegend hungern und in diesen Löchern hausen?“ Aber auch sie hätten am liebsten diese ganze verfluchte Gegend und ihre armseligen Häuschen mitgenommen, wenn es irgendwie möglich gewesen wäre.
Es war ein Lärmen und Schreien, wie überall, wo große Menschenmassen versammelt sind. Männer wie Fraün und auch die Kinder, die von den Müttern in Wiegen auf dem Rücken getragen wurden, kreischten durcheinander. Auch das Vieh war unruhig geworden. An Vieh hatten sie wenig. Hier und da ein Kalb. Dann ein magerer, struppiger Klepper mit großem Kopf und dicken Beinen, den sie mit allen möglichen groben Decken, Beuteln oder je zwei Säcken über den Saumsattel beladen hatten, so daß das arme Tier unter der Last hin und her wankte; doch hielt es sich aufrecht und wieherte. Andere hatten Eselchen beladen.
Freche Kinder zogen Hunde an Ketten hinter sich her. Wirr mischten sich Reden, Schreien, Fluchen, Wehklagen, Weinen, Kläffen; auch ein Esel machte zwei-, dreimal i-a, i-a, i-a.
Nur der Führer brachte kein Wort hervor, als ginge ihn die ganze Schar und das Durcheinander nichts an. Ein echter Weiser!
Er saß unbeweglich, gesenkten Kopfes, schwieg und dachte. Nur ab und zu spuckte er, das war alles. Aber gerade durch sein sonderbares Verhalten wuchs seine Beliebtheit so, daß jeder bereit gewesen wäre, für ihn, wie man sagt, durchs Feür zu gehen. Häufig konnte man etwa folgendes Gespräch hören:
„Wir können glücklich sein, einen solchen Menschen gefunden zu haben. Hätten wir uns ohne ihn auf den Weg gemacht – Gott behüte – das wäre eine heillose Geschichte geworden, es wäre aus mit uns! Das ist ein kluger Kopf, mein Lieber! Leider schweigt er nur. Noch kein Wort hat er gesprochen!“ sagte einer und sah mit Ehrfurcht und Stolz auf den Führer.
„Was sollte er auch sagen? Wer viel reder, denkt wenig. Kluger Mensch! – Selbstverständlich! Er schweigt nur und denkt nach“, fügte ein anderer hinzu, und auch er blickte voll Ehrfurcht auf den Führer.
„Überlegt, es ist nicht leicht, so viele Menschen zu führen! Er muß denken, wenn er sich eine solche Pflicht aufgebürdet hat!“ sagte wiederum der erste.
Es kam die Zeit zum Aufbruch. Sie warteten ein wenig, weil es vielleicht doch noch jemand hätte einfallen können, sich ihnen anzuschließen. Aber als keiner mehr kam, wollten sie nicht mehr länger zögern.
„Wollen wir losziehen?“ fragten sie den Führer.
Er stand auf, ohne ein Wort zu sagen.
Die mutigsten Männer reihten sich sofort um ihn, ihm beizustehen und ihn zu beschützen, falls ihm eine Gefahr drohen sollte.
Der Führer zog energisch die Augenbraün zusammen, ging gesenkten Kopfes einige Schritte, schwang würdevoll den Wanderstab vor sich hin, und das Volk zog ihm nach und schrie wieder und wieder: „Er lebe hoch!“
Der Führer ging noch einige Schritte, und stieß gegen den Zaun vor dem Gemeindegebäude. Da blieb er natürlich stehen, die Masse mit ihm. Der Führer wich ein Stückchen zurück und klopfte zwei-, dreimal mit dem Stock gegen den Zaun.
„Was machen wir jetzt?“ fragten sie.
Er schwieg.
„Was – was sollen wir tun?“
„Reißt den Zaun nieder!“ – „Recht so, los!“
„Siehst du denn nicht, daß er mit dem Stock ein Zeichen gibt, was zu tun ist?“ schrien diejenigen, die in der Nähe der Führers standen.
„Da ist die Tür – dort ist tie Tür!“ schrien die Kinder und zeigten auf die Tür, die gegenüber lag.
„Pssst, still Kinder!“
„Gott sei mit uns – was geht hier vor sich?“ bekreuzigten sich einige Fraün.
„Haltet den Mund, er weiß, was zu tun ist. Weg mit dem Zaun!“
Im Nu barst der Zaun, als wäre er nie dagewesen. Sie stiegen über ihn hinweg.
Kaum, daß sie hundert Schritte gegangen waren, fiel der Führer plötzlich in einen großen Dornenstrauch und blieb liegen. Mit Mühe und Not riß er sich heraus und begann mit dem Stock bald nach links, bald nach rechts zu schlagen. Der Zug stockte.
„Was ist denn jetzt schon wieder los?“ schrien die hinteren.
„Sofort den Dornenstrauch durchbrechen!“ schrien die Vornestehenden zurück.
„Da ist der Weg, hinter dem Dornenstrauch! Da ist der Weg, hinter dem Dornenstrauch!“ riefen die Kinder und mit ihnen die aus dem Hintergrund.
„Da ist der Weg – da ist der Weg!“ äfften zornig die Männer neben dem Führer nach.
„Und wer weiß, wohin er uns führt, ihr Blinden? Alle können nicht befehlen. Er wird schon wissen, welcher Weg besser und näher ist! Durchbrechen wir den Dornenstrauch!“
Sie stürzten sich darauf und schlugen eine Bresche.
„A-jaoj!“ zeterte einer, dem ein Dorn in die Hand stach, und ein anderer, dem ein Brombeerzweig ins Gesicht peitschte.
„Ohne Mühe, mein Bruder, gibt es nichts. Man muß sich ein bißchen anstrengen, wenn man etwas erreichen will“, antworteten die Mutigsten.
Nach manchen Anstrengungen hatten sie den Dornenstrauch durchbrochen und zogen weiter.
Eine Zeitlang schleppten sie sich dahin, bis sie auf Holzpfähle stießen.
Auch diese warfen sie um und zogen drüberweg.
An diesem Tag kamen sie nur langsam voran, denn sie hatten noch einige ähnliche kleinere Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Und dies bei magerer Kost; der eine hatte nur trockenes Brot und etwas Käse bei sich, der andere nur Brot, um wenigstens ab und zu den Hunger zu stillen. Und mancher hatte nicht einmal Brot. Gott gab die Sommerzeit dazu, und man fand wenigstens hier und da einen Obstbaum.
Obwohl sie, wie gesagt, am ersten Tag nur eine kleine Strecke zurückgelegt hatten, verspürten sie am Abend große Müdigkeit. Besondere Gefahren drohten nicht, auch Unfälle hatte se nicht gegeben. Selbstverständlich kamen bei einem so großen Unternehmen auch Kleinigkeiten vor:
Einer Frau war ein Dornenzweig ins linke Auge gefahren, sie hatte einen feuchten Lappen darumgewickelt.
Ein Holzpfahl schlug auf das Beinchen eines Kindes, es hinkte und jammerte.
Ein Greis stolperte über einen Brombeerstrauch, er fiel und verstauchte sich den Fuß. Ihm wurde eine geriebene Zweibel aufgelegt, er ertrug tapfer den Schmerz und humpelte mutig weiter, auf den Stock gestützt, dem Führer nach. (Viele behaupteten zwar, der Alte lüge, er habe sich gar nicht den Fuß verstaucht, sondern er verstelle sich nur, um zurückkehren zu können.)
Schließlich waren es wenige, die keinen Dorn im Arm oder das Gesicht nicht zerkratzt hatten… Die Männer ertrugen es heldenhaft, die Fraün dagegen verfluchten die Stunde des Aufbruchs, und die Kinder, wie Kinder nun einmal sind, weinten natürlich, denn sie begriffen noch nicht, daß diese Qualen und Schmerzen reich belohnt werden würden.
Zum Glück und zur Freude aller passierte dem Führer nichts. Er, wenn wir ehrlich sein wollen, wurde allerdings auch am meisten beschützt, aber – wahrhaftig – der Mann hatte Glück.
Auf dem ersten Nachtlager beteten sie und dankten Gott, daß sie den ersten Tag glücklich überstanden hatten und daß ihrem Führer nichts, auch nicht das kleinste Übel, zugestoßen war. Da nahm einer aus der Gruppe der Mutigsten das Wort. Über sein Gesicht lief eine Strieme, die vom Brombeerbusch herrührte, aber er achtete nicht darauf:
„Brüder!“ begann er, „nun haben wir, Gott sei Dank, einen Tag glücklich hinter uns. Der Weg ist nicht leicht, aber wir müssen tapfer alle Hindernisse überwinden, denn wir wissen, daß uns dieser qualvolle Weg zu unserem Glück führt. Möge unser allmächtiger Gott den Führer vor jedem Übel bewahren, damit er uns auch weiterhin so erfolgreich führen kann!…“
„Morgen werde ich, wenn das so weiter geht, auch noch mein zweites Auge verlieren!“ brummte die Frau zornig vor sich hin.
„Ach, au, mein Bein!“ schrie der Alte auf, ermutigt durch die Bemerkung der Frau.
Die Kinder piepsten unentwegt und weinten. Und die Mütter beschwichtigten sie, um die Worte des Redners zu hören.
„Ja, du wirst auch das zweite Auge verlieren“, fuhr der Redner auf, „und wenn du beide verlierst…! Was bedeutet es, wenn eine Frau die Augen für eine so große Sache opfert. Schande! Denkst du nicht an das Gute und an das Glück deiner Kinder? Und wenn die Hälfte von uns für diese Sache zugrunde geht – was macht’s! Was ist schon ein Auge. Wozu brauchst du denn die Augen, wenn jemand da ist, um für uns zu sehen und uns zu unserem Glück zu führen? Sollen wir vielleicht wegen deines Auges und wegen der Beine des Alten unser großes Unternehmen aufgeben?“
„Er lügt, der Alte! Der Alte lügt! Er verstellt sich nur, damit er umkehren kann!“ hörte man Stimmen von allen Seiten.
„Brüder, wer nicht mehr mitmachen will“, meldete sich wieder der Redner, „der soll umkehren, anstatt zu jammern und die übrigen aufzuhetzen. Ich jedenfalls, ich werde diesem klugen Führer folgen, solange ich lebe.“
„Alle werden wir folgen, alle ihm, bis an unser Lebensende.“
Der Führer schwieg.
Die Leute begannen ihn wieder zu mustern und flüsterten:
„Er schweigt nur und denkt!“
„Ein weiser Mensch!“
„Sieh dir seine Stirn an!“
„Und immer dieser umdüsterte Blick!“
„Ernst!“
„Mutig ist er, das sieht man an allem.“
„Mutig!“
„Laßt ihn: Zaun, Holzpfähle, Sträucher, alles riß er nieder.“
„Er klopft nur so finster mit dem Stock und spricht nichts!“
„Sei still, wirst sehen, wie du ohne ihn weiterkommst!“
Der Führer (1/3)
„Brüder und Freunde, ich habe mir all eure Reden angehört. Nun bitte ich euch, hört mir zu.
Alle unsere Beratungen und Gespräche führen zu nichts, solange wir in diesen unfruchtbaren Gegend bleiben wollen. Auf diesem sandigen Boden und auf diesen Steinen ist bisher nichts Rechtes gediehen, nicht einmal, wenn wir Regenjahre hatten, geschweige denn bei solcher Dürre, wie sie vermutlich niemand von uns bisher erlebt hat.
Wie oft werden wir uns noch so zusammenfinden und ins Leere reden? Unser Vieh ist verreckt an Futtermangel, und es fehlt nicht viel, dann werden auch wir mitsamt unseren Kindern verhungern. Wir müssen eine andere, bessere und klügere Lösung finden. Ich denke, er wäre am besten, wir verlassen diese unfruchtbare Gegend und ziehen in die weite Welt, um einen besseres und fruchtbareres Land zu suchen, denn so können wie nicht länger leben.“
So sprach auf einer Versammlung mit müder Stimme einer der Bewohner jener unfruchtbaren Gegend. Wo und wann sich das zugetragen hat, das – denk ich – geht weder euch noch mich etwas an. Die Hauptsache ist, ihr glaubt mir, daß dies irgendwo und irgendwann in irgendeinem Land wirklich geschehen ist – und das genügt. Früher meinte ich nämlich, ich hätte diese ganze Geschichte erdichtet, aber nach und nach befreite ich mich von diesem schrecklichen Irrtum, und heute bin ich fest davon überzeugt, daß all dies, was ich jetzt erzählen werde, irgendwann einmal stattgefunden hat und stattfinden mußte und daß ich diese Geschichte niemals hätte erfinden können.
Die Zuhörer des Mannes – blasse, abgezehrte Gesichter, mit stumpfem, trübem, austruckslosem, fast bewußtlosem Blick, die Hände unter dem Gürtel – schienen nach diesen klugen Worten aufzuleben. Jeder sah sich schon in einer zauberhaften, paradiesischen Landschaft, wo die mühelvolle Arbeit mit reicher Ernte belohnt werden würde.
„Er hat recht – recht hat er…“ begannen die erschöpften Stimmen von allen Seiten zu raunen.
„Ist es nahe?“ hörte man ein gedehntes Flüstern aus einer Ecke.
„Brüder!“ fing ein anderer mit etwas kräftigerer Stimme zu sprechen an. „Wir müssen diesem Vorschlag sofort folgen, so geht es einfach nicht mehr weiter! Wir haben geschuftet und wir haben uns gequält, und trotzdem war alles umsonst. Wir haben uns das Getreide vom Munde abgespart und haben gesät. Aber dann kam die Flut und schwemmte alles weg, Samen und Erde von der zerklüfteten Berghängen, so daß nur der nackte Stein übrigblieb. Sollen wir hier ewig ausharren, von früh bis spät uns abrackern und dennoch hungrig und durstig, nackt und barfuß bleiben? Wir müssen aufbrechen und einen besseren und fruchtbareren Boden suchen, wo unsere mühsame Arbeit mit reicher Frucht belohnt wird.“
„Laßt uns gehen, laßt uns sofort gehen, hier läßt es sich nicht mehr leben!“ erhob sich ein Geflüster und die Masse zerstreute sich, ohne zu wissen wohin.
„Halt, Brüder! Wo wollt ihr hin?“ fing der erste Redner wieder an. „Freilich sollten wir fortziehen, aber so geht das nicht. Wir müssen genau wissen, wohin wir wollen, sonst kommen wir, anstatt uns zu retten, vom Regen in die Traufe. Ich schlage vor , daß wir einen Führer wählen, dem wir alle zu gehorchen haben und der uns den rechten, besten und nächsten Weg führt.“
„Wählen, ja, sofort wählen!“ hörte man von allen Seiten. Es entstand ein allgemeines Durcheinanderreden, ein richtiger Tumult. Jeder sprach, und keiner hörte dem andern zu, noch hätte auch einer den andern verstehen können.
Dann begannen sie sich in kleine Gruppen aufzuspalten; jeder murmelte etwas vor sich hin. Auch diese kleinen Gruppen lösten sich auf, man nahm sich an der Hand, immer zwei und zwei, jeder spricht auf den anderen ein und versucht ihm etwas zu beweisen, zieht ihn am Ärmel und legt ihm die Hand auf den Mund. Und wiederum trafen alle zusammen und wiederum sprachen alle.
„Brüder!“ übertönte eine stärkere Stimme alle anderen heiseren, stumpfen Stimmen. „So kommen wir nicht weiter, alle sprechen durcheinander und keiner hört auf den anderen. Wir wollen einen Führer wählen! Wen könnten wir unter uns wählen? Wer unter uns ist so weit gereist, daß er die Wege kennt? Wir kennen uns alle gut, und dennoch würde ich mich mit meinen Kindern keinem einzigen hier auf dieser Versammlung anvertraün. Sagt mir lieber, wer kennt diesen Wanderer dort, der schon seit heute früh im Schatten am Wege sitzt?“
Es entstand eine Stille, alle wandten sich dem Unbekannten zu und musterten ihn von Kopf bis Fuß.
Jener Mann mittleren Alters, ein gebräuntes Gesicht, das vor lauter Haaren und Bart kaum zu sehen was, saß, schwieg wie bisher und klopfte – wie in Gedanken vertieft – von Zeit zu Zeit mit seinem dicken Wanderstab auf die Erde.
„Gestern habe ich denselben Mann mit einem Jungen gesehen, sie führten sich an der Hand und gingen des Weges. Und gestern am Abend ging der Junge durchs Dorf auf und davon. Der Wanderer aber blieb hier.“
„Brüder! – Laßt diese Kleinigkeiten und Narreteien, wir wollen keine Zeit verlieren. Wer er auch sei, er ist ein Wanderer von weit her. Wenn ihn auch keiner von uns kennt, sicher kann er uns den nächsten und besten Weg weisen. Wie ich ihn einschätze, scheint denkt fortwährend. Ein anderer würde sich bis jetzt schon zehnmal vorlaut eingemischt oder mit irgend jemand ein Gespräch angeknüpft haben, aber er sitzt die ganze Zeit über allein da und schweigt.“
„Natürlich, der Mann schweigt und sinnt über etwas nach. Es kann ja nicht anders sein. Bestimmt ist er sehr klug“, folgerten schließlich auch die anderen. Sie begannen den Fremden von allen Seiten zu mustern, jeder entdeckte an ihm und seinem Äußeren eine andere glänzende Eigenschaft, viele einen Beweis seiner außergewöhnlichen Klugheit.
Es wurde nicht viel Zeit mit Gesprächen zugebracht, und alle einigten sich, es wäre am besten, diesen Wanderer, den ihnen, wie sie sagten, Gott selbst geschickt hatte, zu bitten, sie in die Welt mitzunehmen, um ein besseres Land und einen fruchtbareren Boden zu suchen; er solle ihr Führer sein. Sie wollten sich ihm unterwerfen und ihm bedingungslos folgen.
Sie suchten aus ihrer Mitte zehn Männer aus, die zu dem Fremden gehen sollten, um ihm die Beschlüsse der Versammlung vorzutragen. Sie sollten ihm ihre elenden Verhältnisse schildern und ihn bitten, sich als Füherer ihrer anzunehmen.
So gingen denn zehn, beugten sich demütig vor dem klugen Fremden, und einer von ihnen begann, von dem unfruchtbaren Boden ihres Landes zu sprechen, von den trockenen Jahren und dem Elend, in dem sie sich befanden; er schloß folgendermaßen:
„Diese Umstände zwingen uns, unsere Gegend und unsere Häuser zu verlassen und in die Welt zu ziehen, um eine bessere Heimat zu suchen. Ausgerechnet in diesem Moment, wo wir auf einen so glücklichen Gedanken gekommen sind, scheint sich auch Gott unser zu erbarmen, indem er dich, weiser und vorbildlicher Fremder, zu uns sandte, damit du uns führst und vom Elend erlöst. Wir bitten dich, im Namen aller Einwohner, unser Führer zu sein. Wohin du auch gehen magst, wir folgen dir. Du kennst die Wege und bist wohl auch in einer glücklicheren und besseren Heimat geboren. Wir werden dir gehorchen und uns jedem deiner Befehle beugen. Willst du, weiser Fremder, dich bereit erklären, so viele Seelen vor dem Untergang zu retten, willst du unser Führer sein?“
Der weise Fremde hob während dieser rührenden Rede nicht einmal den Kopf. Er blieb bis zuletzt in derselben Haltung, in der sie ihn vorgefunden hatten: Mit gesenktem Kopf, finster, schweigsam, klopfte er nur hin und wieder mit dem Stock auf den Boden. – Er denkt.
Als die Rede zu Ende war, stieß er kurz und langsam durch die Zähne, ohne dabei die Haltung zu ändern:
„Ich will!“
„Können wir uns also mit dir auf den Weg machen und nach einem besseren Land suchen?“
„Könnt ihr!“ sagte der weise Fremde, ohne den Kopf zu heben.
Jetzt erhob sich Begeisterung und Dank, aber auch daraufhin ließ der Weise kein einziges Wort verlauten.
Die zehn teilten der Versammlung den Erfolg mit und rühmten die Klugheit, die – wie sie erst jetzt richtig gesehen hätten – in ihm steckte.
„Er rührte sich überhaupt nicht vom Fleck, hob nicht einmal den Kopf, um wenigstens zu sehen, wer mit ihm sprach. Er schwieg nur und dachte nach; auf all unsere Reden und Dankesbeteürungen hat er kaum zwei Worte erwidert.“
„Ein richtiger Weiser!“ „Eine seltene Klugheit!“ riefen sie voll Freude von allen Seiten und behaupteten, der Herrgott selbst habe ihn als Engel vom Himmel herabgesandt, um sie zu retten. Jeder glaubte fest an den Erfolg unter der Führung eines solchen Mannes, den nichts auf der Welt aus dem Konzept bringen konnte.
So wurde auf der Versammlung beschlossen, noch am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang aufzubrechen.